Im Pfeifermobil durch den Balkan

Mein Pfeifer-Stipendium war als Familienreise angelegt. Mit meiner Frau und unserem 15 Monate alten Sohn begab ich mich auf die Suche nach Spuren des Krieges im ehemaligen Jugoslawien. Dass diese Konstellation auch Risiken und Nachteile barg, war uns klar. Meistens erwies sie sich jedoch als Glücksfall. Unser Sohn zeigte sich da und dort als eigentlicher Türöffner.

Die Türe zu unserer geplanten Menschenkette war jedoch mit dem «ne» aus Zagreb vorerst zu. Wir schlugen bei klirrender Kälte auf dem Campingplatz des Kurorts Čatež, eine Stunde von Zagreb entfernt, unser Lager auf. Slowenien war auch die erste Destination des Bürgerkrieges: 1991 bombardierte die serbische Luftwaffe den Flughafen von Ljubljana, zwei österreichische Journalisten starben beim Luftangriff.

Ich beschloss mangels Alternativen, die geplante Menschenkette einfach mit unserem Campingnachbarn Vincenc zu eröffnen: Ein Slowene, der mit seiner deutschen Lebenspartnerin und einem bulligen «Quad», einem vierrädrigen Motorrad-Ungeheuer, Urlaub machte. Der anfänglichen Zitterpartie folgte die fotografische Routine und verlieh der Familienfahrt ins Nirgendwo endlich eine professionelle Struktur. Als Fotoreporter scheint mir das symptomatisch: Eine ersehnte Situation, mit grösster Anstrengung oder durch gnädiges Berufsglück herbeigeführt, wird zum Routinegeschäft; der Aufnahmewinkel wird festgelegt, die Blitzanlage aufgebaut, Licht gemessen und abgedrückt.

Zwanzig Jahre nach Beginn der blutigsten Auseinandersetzungen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg – die letzten Schüsse fielen in Mazedonien im Jahr 2001 – scheint der Krieg für die Menschen im Balkan ganz weit weg. Oder, wie es Amela Sarić, Direktorin am Pavarotti Music Center im bosnischen Mostar ausdrückt: «Schon Tausende aus dem Westen waren hier und fragten uns immer nur nach dem einen: Wie kam es, dass ihr euch gegenseitig massakriert habt? Wir haben diese Fragen nach dem Krieg satt.»

Auch ich gehöre zu diesen Leuten, die solche Fragen stellen wollen. Ich habe sie schon 1995 gestellt, auf meiner ersten Reise nach Bosnien, und auch 1999, im Kosovo. Doch damals waren die Menschen froh, das Unfassbare loszuwerden, die persönlichen Schrecken auf Band zu bannen. Die ersten Monate nach einem Krieg sind für die Reporter am schönsten. Inmitten der Zerstörung und Trauer fasst man sich und schöpft Atem. Der Wiederaufbau erfordert Solidarität und Hilfsbereitschaft, die auch dem Besucher reichlich entgegengebracht werden.

Doch nun steht Kroatien vor der Tür der Europäischen Union, Slowenien ist bereits Mitglied im begehrten Club. Der Krieg erscheint wie ein fernes Rauschen. Das Donnern der serbischen MiG-29-Jagdflugzeuge über Zagreb ist längst verhallt, etwas träger verblassen die unangenehmen Erinnerungen: Besser nicht darüber sprechen. Schon gar nicht über die Verbrechen der eigenen «Kriegshelden», die sich heute – wie der kroatische General Ante Gotovina – vor dem Menschenrechtsgerichtshof, dessen längst alle überdrüssig geworden sind, in Den Haag zu verantworten haben.

Wir fuhren in den Norden von Slowenien, ein Bergdorf an der Grenze zu Österreich. Hier begrüsste uns Vincencs Bruder Martin und erzählte Schmugglergeschichten aus dem Krieg von 1991. Grosszügig werden wir zum Mittagessen eingeladen. Das gab uns Zuversicht bezüglich der weiteren Reise. Martins Familie schlug als Folgekontakt zwei Möglichkeiten vor: ein Geschäftspartner von Martin in Zentralbosnien oder Anton, ein Slowene, der sich sein Rentnerdasein an der kroatischen Küste eingerichtet hat. Unsere Wahl fiel auf den Geschäftspartner in Bosnien.

Schneetreiben und vereiste Strassen erwarteten uns an der Grenze. Die Kälte zwang uns, den Wagen rund um die Uhr zu heizen. Der Gasverbrauch war enorm, doch durfte das Wassersystem des Pfeifermobils nicht einfrieren, um Schäden an den Leitungen zu vermeiden. Trotz seiner telefonischen Zustimmung wollte der Geschäftspartner nach unserer Ankunft nichts mehr vom Projekt wissen. Die plötzliche und schroffe Absage scheint eine kulturelle Eigenart des Balkans zu sein, die uns das Leben noch schwer machen sollte: Man will niemanden brüskieren und sagt erst einmal lachend zu. Später, völlig überrascht angesichts der nicht im Entferntesten erwarteten Anreise, wird erschrocken der Rückzug angetreten.

Anton jedoch schien sich aufrichtig über den Besuch zu freuen. Der Umweg über Bosnien hatte uns eine halbe Woche gekostet. Aber Zeitverlust wurde relativ auf einer dreimonatigen Fahrt durch den Balkan, auf der wir über zwölftausend Kilometer zurücklegen sollten. Manchmal klappten die Kontakte auf Anhieb, einmal schien die Kette endgültig unterbrochen, als mich eine ältere Dame, die Grosstante einer zuvor fotografieren Familie, in der Grenzstadt Županja mit dem Besen von ihrem Vorplatz vertrieb. Doch der Bürgermeister der Stadt wohnte in der Nachbarschaft, bat mich herein und beschloss, für das Projekt zu posieren.

Die Menschenkette erweiterte sich um einen Parteikollegen des Bürgermeisters im kroatischen Teil Bosnien-Herzegowinas. Dieser kontaktierte eine Pianistin und Musikprofessorin aus Mostar, die uns schliesslich mit dem Schwiegervater ihres Sohnes verband: Ein landesweit bekannter TV-Journalist. Von dort ging die Reise nach Srebrenica: Hatidža Mehmedović, Präsidentin der Organisation «Mütter von Srebrenica», verlor beim Genozid im Juli 1995 beide Söhne und ihren Mann.

Auf Srebrenica folgten Sarajevo, Banja Luka und ein Bauerndorf im serbischen Teil Bosniens: Vater und Sohn präsentierten stolz ihre Waffensammlung und empfahlen uns bei Srđan Popović, Belgrader Marketingchef der Milchverarbeitungsfirma Imlek. Die Reise ging weiter über Montenegro, dann quer durch Albanien nach Mazedonien. Erst die Passage in den Kosovo, den letzten Staat auf unserer Reise, erlitt Schiffbruch. Wir waren in Slowenien, Kroatien, Bosnien, Serbien, Mazedonien und Montenegro gewesen. Eine Verbindung in die «Wiege des Serbentums», wie nationalistische Serben den Kosovo gerne bezeichnen, war aus Serbien jedoch nicht herzustellen. Überhaupt schien das Anschneiden des Themas Kosovo in Serbien ein regelrechter Angriff auf die Integrität des patriotischen Bürgers zu sein. Der Verlust der Provinz schmerzt bis heute. So sehr, dass sich die serbische Grenzpolizei eine gute halbe Stunde Zeit nimmt, um jeden einzelnen Kosovo-Stempel einer früheren Reise in unseren Pässen mittels eines «Annulliert»-Stempels zu tilgen. Kosovo ist Teil Serbiens, deshalb haben die Kosovoalbaner kein Recht, eigene Stempel zu setzen!

Die hoffnungsvolle Einreise von Südserbien in den Kosovo glich eher einem Spiessrutenlauf zwischen Stacheldraht, bewaffneten Checkpoints, Einforderung einer zusätzlichen Autohaftpflichtversicherung, Gepäckkontrolle sowie der Zahlung von fünf Euro für die «Desinfektion» der Autoreifen. Auch die kosovoalbanische Verwaltung demonstriert hier nach allen Kräften, wer der neue Herr im Haus ist.

Das Pfeifermobil, so tolle Dienste es uns schon geleistet hatte, erwies sich im südlichen Balkan eher als Bürde. Kosovo ist kein Land für Familienurlaub, so zumindest unsere Tarnung bei unangenehmen Fragen. Diesel wurde uns prinzipiell ein Drittel teurer verkauft. Im ganzen Kosovo gab es einen einzigen Campingplatz – auf rund 1500 Metern Höhe. Die Sorge um die Sicherheit des Wagens und seines Fototechnischen Inhalts zwang uns, oft in Sichtweite zu bleiben.

Die Menschenkette glich nun einem ausfransenden Hanfseil, die einzelnen Strippen liessen sich nicht mehr fassen. Gute Kontakte von sechs früheren Kosovoreisen schienen abgekühlt. Wir fühlten uns etwas verloren und fehl am Platz. Unter diesem Eindruck verliessen wir das Land einige Tage früher als geplant und fuhren nach Griechenland. Hier konnte ich in aller Ruhe mein Material auswerten.

Ich habe gelernt, mit sehr wenig Wasser oder kalt zu duschen; mit meiner Familie auf sechs Quadratmetern zu leben; mit mazedonischen und kosovarischen Tankwarten zu streiten; beim Pinkeln auf Landminen zu achten; Motorenöl zu wechseln; Gastgeschenke anzunehmen; Slibovic zu trinken; kyrillische Strassenschilder zu entziffern; in Belgrad mit einem Wohnmobil zu parken; auf kleinstem Raum zu kochen; den Kartenkenntnissen meiner Frau blind zu vertrauen; mit meinem Schweizer Taschenmesser Weinflaschen zu öffnen; in Schräglage oder neben vorbeidonnernden Lastwagen zu schlafen und vieles mehr.

Vom Brückenschlag der Volksgruppen in Ex-Jugoslawien haben wir hingegen kaum etwas bemerkt. Die alten Feindschaften sind mit ins neue Jahrtausend getrottet und machen sich hier breit. Die Selbstwahrnehmung der Völker ist stark verzerrt. Jede Volksgruppe sieht sich primär als Opfer. Gedanken über die eigene Täterschaft sind unpopulär bis staatsfeindlich. Hinweise auf Greueltaten aller Kriegsparteien tut man mit der lapidaren Bemerkung ab: «Es war ja Krieg».

Von diesem Krieg erzählen immer noch die von Kugeln pockennarbig geschossenen Häuserfassaden, die unzähligen Minenwarnschilder, die übermalten Ortstafeln oder die Gräber tausender von Toten. Doch die Spuren des Krieges sind vor allem in den Lebenden zu finden, so sehr sich einige die Mühe machen, zu vergessen. Fünfundzwanzig portraitierte Familien oder Einzelpersonen erlebten mit den Ereignissen, die vor bald zwanzig Jahren über ihr Leben hereinbrachen, dramatische Änderungen und Einschnitte. In knapp fünfzig Interviews erfuhren wir Grauenvolles und Heiteres, Polemisches oder Umsichtiges. Auf eine Frage jedoch schien niemand eine wirklich schlüssige Antwort zu haben: Wie kam es, dass ihr euch gegenseitig massakriert habt?